Kino, noch lange nicht rosa-rot
Verschiedene Datenanalysen zeigen: Die Film-Welt ist für Frauen vor und hinter der Kamera noch lange nicht gleichberechtigt. Welche Rolle(n) Frauen in Filmen spielen, ist für den Erfolg bei Zuschauer:innen und auch bei Filmpreisen Nebensache.
Von Marie Gundlach, Louisa Hoffmann und Anne Kliem
Als die Comic-Autorin Alison Bechdel im Jahr 1985 in “Dykes to Watch Out For” einen Katalog vorstellte, der stereotypische Rollen von Frauen in Spielfilmen entlarven soll, tat sie das mit einem Augenzwinkern. Um den Test zu bestehen, muss ein Film nur drei Kriterien erfüllen. Und diese Hürden scheinen denkbar einfach:
(1) Es gibt mindestens zwei Frauenrollen.
(2) Diese Frauen unterhalten sich miteinander.
(3) Dabei sprechen sie über etwas anderes als einen Mann.
Spätestens bei den Ergebnissen des “Bechdel-Tests” ist auch heute noch Schluss mit Zwinkern: Denn auch rund 25 Jahre nach Einführung dieses einfachen Instruments bestehen etliche Filme den Test nicht, darunter auch erfolgreiche Streifen wie “Forrest Gump”, “Der Pate” oder “Slumdog Millionaire”. Haben die Präsenz von Frauen und die der Wahrnehmung der cineastischen Qualität durch das Publikum also nicht viel miteinander zu tun?
So sieht es aus. Denn genau zu diesem Ergebnis kommt unsere Auswertung der Datenbank zum Bechdel-Test und der Nutzer:innen-Bewertung in der wichtigen Filmdatenbank IMDB (Internet Movie Database).
Insgesamt bestehen 5.063 der 8.775 erfassten Filme den Bechdel-Test — das entspricht weniger als 60 Prozent. Die Präsenz von Frauen von Filmen zeigt dabei keine signifikante positive Auswirkung auf ihre IMDB-Bewertung. Im Gegenteil: Die Filme, die den Test bestehen (in den Grafiken pink), kommen im Durchschnitt sogar etwas schlechter weg: Mit einer durchschnittlichen Punktzahl von 6.5 werden sie schlechter bewertet als Filme, die kein einziges Bechdel-Kriterium erfüllen (in den Grafiken dunkelblau)und mit 6.8 die höchste Durchschnittsbewertung haben.
Susanne Foidl überrascht dies nicht. Die Schnittmeisterin ist seit 2013 Gleichstellungsbeauftragte an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf, der ältesten und größten Filmhochschule Deutschlands. Im Interview mit uns sagt sie: “Was wir im Leben als normal ansehen, wird uns im Film nicht plötzlich negativ auffallen. Warum sollte da plötzlich auffallen, dass Frauen da nicht miteinander reden oder eben nur oft nur über Männer?” Ihrer Meinung nach haben Filmemacher:innen eine große Verantwortung: „Der Film ist eine ‘Weltanschauungsmaschine’, die den Blick auf andere Menschen formt.”
Am Anfang war der Mann
Dass sich die Rolle der Frauen in der Gesellschaft auch im Film widerspiegelt zeigt eine zeitliche Betrachtung des Bechdel-Tests. Während Frauen in den wenigen bewerteten Filmen um das Jahr 1900 eine Seltenheit sind, stieg der Anteil der Filme, die den Bechdel-Test bestehen seit den 1920er-Jahren im Mittel kontinuierlich an. Auf etwa 76 Prozent im Jahr 2020.
Wie in der Gesellschaft auch, erkämpften sich Frauen im 20. Jahrhundert Stück für Stück ihren Platz vor und hinter der Kamera. Wir haben wichtige Meilensteine zusammengetragen:
Der Gender-Genre-Gap
Beim Bestehen des Bechdel-Tests zeigen sich zwischen den Filmgenres aber enorme Unterschiede, die Stereotype unterstreichen: In Romanzen und Horrorfilmen bestehen zwei Drittel der Filme den Test. Schlecht kommen hingegen Genres aus, die als Männerdomänen gelten: Nicht einmal die Hälfte der Action- oder Sport-Filme aus dem Datensatz bestehen den Test hier überhaupt, im Western besteht nur ein gutes Viertel der bewerteten Filme.
Diese Ergebnisse sind nicht auf Spielfilme begrenzt. Eine 2020 veröffentlichte Studie der Universität Rostock untersuchte die Darstellung von Geschlecht und Diversität in “Originals”-Serien für die Streaming- und On-Demand-Angebote von Netflix, Amazon Prime und Co: Während die zentralen Rollen in Romantik-Formaten zu 49 Prozent weiblich besetzt waren, spielten Frauen in den Genres Politik, Action oder Abenteuer nur rund 36 Prozent der zentralen Rollen. Insgesamt waren Frauenfiguren in der Minderheit: In deutschen Produktionen lag der Anteil zentraler weiblicher Rollen mit nur 35 Prozent noch deutlich unter dem europäischen Durchschnitt von 42 Prozent. Frauenrollen waren zudem meist jünger und im Vergleich zu männliche Rollen doppelt so häufig sehr schlank.
Neben der Besetzung der Rollen lassen sich auch in der filmtechnischen Umsetzung Unterschiede in der Geschlechterdarstellung erkennen — dafür muss man aber so genau hinschauen, wie Susanne Foidl beschreibt: “Angenommen, es gibt einen Dialog zwischen einem Mann und einer Frau. Dann sieht man beim Blick auf die Frau häufig noch die Schulter des Mannes im Bild, während Männer sehr häufig alleine im Bild sind. Implizit hat das eine Aussage: Die Frau existiert eigentlich nur im Verhältnis zum Mann, während er völlig alleine im Bild stehen kann.”
Sprecht doch mal miteinander!
Einfach nur eine Hauptrolle weiblich zu besetzen, reicht für Gendergerechtigkeit im Film nicht aus. Susanne Foidl macht deutlich: “Es ist immer die Frage, was haben die dieser Figuren für Ziele und Konflikte? Was haben sie für Gegenspieler? Und darin stecken häufig eben doch Stereotype, auch wenn die Heldin eine Frau ist.“ Ziele, Konflikte und Stereotype werden häufig in Dialogen deutlich. Interessant ist in diesem Kontext, dass Filme den Bechdel-Test zu mehr als 50 Prozent nicht bestehen, weil Frauenrollen nicht miteinander ins Gespräch kommen.
Zwar gibt es inzwischen in den meisten Filmen mindestens zwei benannte Frauenrollen, viele Filme kommen aber immer noch ohne Dialog zwischen Frauen aus. Bei den fast 2.000 Dramen, die durch den Test fallen, liegt es bei 52 Prozent der Filme an fehlendem Dialog. Dieses Muster zieht sich durch fast alle Genres: So ist beispielsweise die Herr-der-Ringe-Trilogie mit drei starken Frauenrollen bestückt, die aber nie aufeinander treffen.
Der Bechdel-Test ist nicht gerade feinfühlig
Stereotypische Darstellungen fallen dem normalen Publikum in der Regel nicht auf und sie bleiben auch rudimentären Instrumenten wie dem Bechdel-Test verborgen. Er kann zwar Hinweise auf geschlechterspezifische Szenarien von Gesprächen geben — aber auch dafür liegt die Messlatte niedrig. Deshalb steht der Test durchaus in der Kritik.
Das selbst die eigentlich klaren Regeln problematisch werden können, zeigt sich besonders plakativ im Film „Der Herr der Ringe: Die zwei Türme“. Im Film gibt es mehrere benannte Frauenrollen, die allerdings nicht miteinander sprechen. In Minute 16, als das Königreich Rohan von der Armee des Bösen angegriffen wird, kommt es dann aber zu einem vieldiskutierten Dialog:
Morwen: “Listen to me. You must ride to Edoras and raise the alarm. Do you understand me?”
Egothain: “Yes, Mama!”
Freda [starts to cry]: “I don’t wanna leave! I don’t wanna go, Mama!”
Morwen: “Freda, I will find you there.”
Eine Mutter und eine Tochter, die sich voneinander verabschieden — klingt nach einer klaren Sache. Test bestanden. Der Name der Mutter fällt allerdings im Film nie, er ist lediglich im Script vermerkt. Außerdem ist Fredas Bruder ebenfalls mit einem kurzen Satz an der Konversation beteiligt, weshalb es sich für einige Kritiker:innen nicht um ein Gespräch handelt, das ausschließlich zwischen zwei weiblichen Charakteren stattfindet. In der deutschen Synchronisation wirkt es sogar so, als wäre der Befehl der Mutter ausschließlich an ihren Sohn gerichtet. Die zweite diskutierte Stelle in Minute 67 ist ebenso unklar:
Freda: “Where is my mom?”
Eowyn: “Psshh.”
Von einer Gespräch kann keine Rede sein. Auch hier sind eigentlich mehrere Männer Teil der Unterhaltung. Auf bechdeltest.com wird der Film als „Bestanden“ kategorisiert — viele andere Quellen lassen ihn durchfallen.
Gendergerechtigkeit messen — wie geht’s besser?
Ein weit präziseres und unstrittigeres Maß hat das Datenjournalismus-Kollektiv The Pudding mit der Dauer von Film-Dialogen in Abhängigkeit von Geschlecht und Alter herangezogen. In ihrer Analyse von 2.000 Filmen haben Frauen in nur 22 Prozent der untersuchten Filme den Hauptredeanteil. Bei einigen Filmen überrascht das ganz besonders: In einem Großteil der Disney-Filme führen männliche Figuren einen Großteil der Dialoge — sogar in Filmen mit weiblicher Hauptfigur: “Mulan”, “Beauty and the Beast”, “The Little Mermaid” und “Pocahontas”. Aber auch in “Pretty Woman” gehören 58 Prozent der Dialoge den Männern. Zwei Filmen, in denen ausschließlich Frauen sprechen stehen 54 Filme entgegen, in denen ausschließlich Männer das Sagen haben. Die Auswertung der Redezeit ist allerdings ein recht aufwendiges Maß.
Einen inhaltlichen Ansatz für das Anschauen von Filmen schlägt Susanne Foidl vor: “Ein Schnelltest ist, das Geschlecht der zentralen Rollen mal gedanklich zu tauschen und sich zu überlegen, ob die Geschichte dann noch Sinn ergibt.” Falls nicht, sei das ein deutlicher Hinweis darauf, dass eine Rolle stark stereotypisch war.
Von Fachjurys darf man mehr erwarten
Eine kritische Reflexion von Filmen durch alle Kinogänger:innen ist allerding unrealistisch — wer ins Kino geht, möchte meistens vor allem unterhalten werden. Anders darf die Erwartungshaltung gegenüber dem Fachpublikum sein: Filmpreise sind dazu da, Qualität auszuzeichnen. Auszeichnungen wie die Oscars haben eine Signalwirkung und können auch Einfluss darauf nehmen, wie Filme in Zukunft aussehen. Allerdings fehlen selbst bei vielen großen Preisen wie den Academy Awards (Oscars) feste Bewertungskriterien — eine ausgeglichene Geschlechterdarstellung liegt somit im Ermessensspielraum der Juror:innen.
Trotzdem ist bei den bewerteten Filmen eine Tendenz bei der Oscar-Verleihung zu erkennen: Insgesamt 586 Gewinnerfilme aus den vergangenen 100 Jahren sind in der Datenbank eingetragen — 335 (57 Prozent) von ihnen bestehen den Bechdel-Test. Von den Filmen mit mehr als fünf Oscars bestehen immer noch 46 Prozent. Besonders in den letzten 30 Jahren ist zu erkennen, dass der Anteil der bestehenden Filme einen immer größeren Teil der Preisträger ausmacht. Trotzdem ist die Repräsentation kein KO-Kriterium: Die am meisten ausgezeichneten Filme der vergangenen zwanzig Jahre fallen im Bechdel-Test durch: Herr der Ringe mit 11 Oscars, Slumdog Millionaire mit 8 Oscars und Gravity mit 7 Oscars.
Mehr Frauen-Power für mehr Power-Frauen?
Wie aber lässt sich daran etwas ändern? The Pudding hat die Ergebnisse des Bechdel-Tests für 4.000 Filme aus den Jahren 1995 bis 2015 in Abhängigkeit vom Geschlecht der Beteiligten untersucht. Den größten Effekt hat demnach die Geschlechter-Zusammensetzung der Drehbuch-Autor:innen: 46 Prozent der Filme ausschließlich männlicher Teams fallen im Bechdel-Test durch, schon bei einer Frau unter den Autor:innen sind es im Schnitt nur noch 17 Prozent. Von den komplett weiblichen Autorinnen-Teams bestehen nur 6 Prozent der Filme nicht. Ähnlich sieht es bei der Regie aus: 41 Prozent der untersuchten Filme von Männern fallen durch, aber nur 10 Prozent der untersuchten Filme, bei denen eine Frau Regie führte.
Die Lösung scheint einfach: mehr Frauen hinter der Kamera. Doch dass eine Frau in der Regie nicht automatisch Frauen-Power vor der Kamera bedeutet, zeigt der erste Oscar für eine Regisseurin. Kathryn Bigelows Film “The Hurt Locker“ fällt im Bechdel-Test durch.
Engagement für mehr Gendergerechtigkeit
In der deutschen Filmbranche haben sich in den vergangenen Jahren etliche Foren und Initiativen für mehr Diversität und Gendergerechtigkeit gebildet. Denn Frauen gelten sowohl vor als auch hinter der Kamera als strukturell benachteiligt: Der Tagesspiegel nahm sich in einer Datenauswertung die öffentliche Filmförderung in Deutschland 2015 von rund 176 Millionen Euro vor und zeigte, dass damit 633 Filme von Männern mit im Schnitt 278.000 Euro und 223 Filme von Frauen mit durchschnittlich 191.000 Euro gefördert wurden. So wenig wie bei Filmpreisen existieren klare Diversitäts- und Gender-Kriterien bislang in der öffentlichen Filmförderung in Deutschland.
Fast alle deutschen Filmhochschulen und auch viele Produktionsfirmen hätten laut Foidl gemerkt, dass sie “mit Stereotypen nicht mehr weiterkommen” und deshalb Kriterienkataloge für mehr Gendergerechtigkeit festgelegt. Für Zuschauer:innen ist das Engagement deutlich schwieriger. Laut Susanne Foidl bleibt ihnen nur die kritische Auseinandersetzung mit Filmen und “für einen Film, der ganz offensichtlich keine moderne Geschlechterauffassung hat, das Geld nicht an der Kinokasse ausgeben.”
In unserem Forum für Gendergerechtigkeit im Film können Medium-User:innen aktuelle Filmproduktionen vor diesem Hintergrund diskutieren und Empfehlungen aussprechen — oder von problematischen Filmen abraten.
So sind wir vorgegangen
Auf der Website bechdeltest.com halten Filmfans seit 2008 fest, welche Filme den Bechdel-Test bestehen und welche nicht. Über 8.000 Filme sind dort bisher zusammengekommen. Natürlich muss man dabei beachten, dass Nutzer dort willkürlich Filme eintragen: Repräsentativ sind die Daten also nicht. Aber aufgrund der Größe des Datensatzes ist die Website die umfassendste Quelle für unsere Analyse gewesen.
Wir haben die gesamte am 07.01.2021 verfügbare Datenbank heruntergeladen. In den darauffolgenden Tagen haben wir eine kostenlose IMDb-API verwendet, um über die in den Daten enthaltene IMDb-Kennnummer zu jedem der 8.775 Filme die verfügbaren Daten aus der IMDb herunterzuladen. Aus diesen Daten stammen beispielsweise die Angaben zu Nutzer:innen-Bewertung, Genres und Oscars-Auszeichnungen. Die IMDb gilt als größte Filmcommunity im Web, weshalb die Bewertungen auf der Seite ein relativ gutes Bild der Zuschauerschaft abgeben sollten. Für die Angaben zu den Genres wurde jeder Film allen Genres zugerechnet, die ihm auf IMDb zugeordnet werden — hier kommt es also zu Doppelnennungen vieler Filme.
Die Datensätze von imdb.com und bechdeltest.com haben wir anschließend um Serien(episoden) bereinigt und zu einem großen Datensatz zusammengesetzt, den wir je nach Schwerpunkt gefiltert haben. Alle Grafiken wurden mithilfe der Tools von Flourish erstellt. Hier können auch die verwendeten Daten eingesehen werden.